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Inklusives Theaterschaffen

Wenn Professionalisierung mit Vertrauen einhergeht

Bühnentalente mit kognitiven Beeinträchtigungen, mit psychischen Erkrankungen sowie Gehörlose finden in drei Theaterensembles Lern- und Auftrittsmöglichkeiten unter professionellen Bedingungen. Das Theater Frei_Raum in Bern, das Schalktheater in Zürich und movo in Winterthur arbeiten mit ausgebildeten Schauspielerinnen und Schauspielern ohne Behinderungen zusammen oder sind dabei, sich hierfür zu öffnen. Mit ihrer langjährigen Erfahrung zeigen sie auf, was anstelle einer fehlenden Ausbildung zur Professionalisierung führt.
Das inklusive Ensemble des Theater Frei_Raum aus Schauspielerinnen und Schauspielern mit und ohne kognitive Beeinträchtigungen probt seine neue Produktion. Premiere ist im Mai 2019 im eigenen Theater, der Heiteren Fahne in Wabern bei Bern.
© Theater Frei_Raum

Nachtfalter Andri Schenardi ist unsicher. Wird sein Falsett-Gesang beim Publikum auf den hinteren Sitzen zu hören sein? «Und wenn du ein Mikrofon nimmst?», rät Nachtfalter Vera Rohrer. «Hmmm», gibt ihr Bühnenpartner gedankenverloren zurück. «Ich will ja nur helfen», bekräftigt sie. «Danke, Vera», wendet sich Regisseurin Meike Schmitz ihr freundlich zu und erklärt: «Das können wir hier im Proberaum noch nicht entscheiden. Dafür müssen wir auf die grosse Bühne.» Mit von der Partie sind an diesem Vormittag im Kultur- und Gastrobetrieb Heitere Fahne in Wabern bei Bern auch Grille und Glühwürmchen, Blumenelf und Biene – diese möchte frei sein und Abenteuer erleben. Das hauseigene Ensemble, das Theater Frei_Raum, steckt in der dritten von sechs Probewochen für seine neue Produktion, «Born to Bee Wild», die im Mai 2019 Premiere hat.

Kein Kinderstück – hier wird der Aufstand gegen den Umweltzerstörer Mensch geplant. Die Inszenierung über aufbegehrende Insekten reitet auch nicht einfach auf der aktuellen Protestwelle gegen den Klimawandel. Seit zwei Jahren schwirrte die Idee zum Stück in den Köpfen der «Frei_Räumler» herum, diesem inklusiven Ensemble aus Schauspielerinnen und Schauspielern mit kognitiven Beeinträchtigungen sowie ausgebildeten Theater- und Musikschaffenden. Ein festes Kernteam hat das von der Dramaturgin Rahel Bucher mitgegründete und künstlerisch mitgeleitete Theater Frei_Raum, seit es 2013 in der Heiteren Fahne seine Probe- und Spielstätte gefunden hat. Bis auf einen Wechsel erarbeitet es derzeit bereits die dritte Inszenierung in der gleichen Besetzung.

Besondere Konstellation macht die Qualität aus

Statt auf kurzlebige Zugeständnisse an den Zeitgeist setzt das Theater Frei_Raum lieber auf zeitlose Stoffe. Ihre Produktionen erarbeiten die Darstellerinnen und Darsteller gemeinsam anhand von Regievorschlägen, in welche jede und jeder eigene Ideen, Fähigkeiten und Vorlieben einbringt. «Dieser Prozess ist spannend, weil wir so unterschiedliche Menschen sind», sagt Regisseurin Meike Schmitz. Was sich aus dieser besonderen Konstellation entwickle, mache auch die Qualität der Stücke aus, ist sie überzeugt.

«Wir sind insgesamt stärker geworden, was jede und jeder kann, ist gewachsen. Wir haben uns weiterentwickelt.»
Meike Schmitz, Regisseurin Theater Frei_Raum​, Bern

«In dieser Gruppe ist mir so wohl, weil ich mich sehr gut einbringen kann», bestätigt Katrin Jenni. Sie spielte von Kindsbeinen an in allen möglichen Laientheatern mit, bis ihr eine Arbeitskollegin von Insieme Schweiz vom Theater Frei_Raum erzählte. Seit 2014 ist sie stolzes Ensemble-Mitglied. «Stehe ich hier auf der Bühne, nimmt mich das Publikum als eine Mitspielerin wahr, als Persönlichkeit.» Über das Rollenspiel hat sie gelernt, Negatives eher an sich abprallen zu lassen. «Erst gestern kam mir jemand von der Wohngruppe blöd, gab es aber rasch auf: Die Person merkte, dass ich ihr zu stark bin.»

Durch das Theatertraining sei sie ausgeglichener und komme leichter durch ihren Alltag, bilanziert Katrin Jenni. Ein fragiles Gleichgewicht indes, steigere sie sich doch noch immer schnell in etwas hinein. «In dieser Hinsicht bin ich eine zarte Pflanze. Menschen ohne Behinderungen können wohl besser wegstecken – aber sie haben dafür andere Probleme.» 

Zeit braucht es fürs Zuhören, nicht für längere Proben

Den besonderen Umgang in der Gruppe, der Katrin Jenni Halt gibt, schätzen auch die ausgebildeten Ensemble-Mitglieder, die noch anderweitig arbeiten: in Stadttheatern auftreten und bei TV-Produktionen oder Kinofilmen mitwirken. «Diese Achtsamkeit habe ich bisher in keinem anderen Ensemble erlebt. Wir nehmen uns Zeit, einander zuzuhören und zu begegnen, alle Eigenheiten haben Platz. Das ist für mich äusserst wertvoll», sagt etwa Marie Omlin beim gemeinsamen Mittagessen des Ensembles in der Heiteren Fahne.

«Hier werde ich gebremst. Und das ist gut so», findet Andri Schenardi. Die eigene Ungeduld, immer schnellstmöglich möglichst gut zu sein, bekomme ihm nicht. «Der Druck hier ist ein anderer, obwohl wir uns mit sechs Wochen Proben nicht mehr Zeit nehmen für eine Produktion als andere Ensembles aus der freien Szene.» Und obwohl das Spielen im Theater Frei_Raum anspruchsvoller sei. «Ich trage mehr Verantwortung für die Gruppe und die Inszenierung. Das gehört dazu.» Das Ensemble kommt ohne aussenstehende Assistenzpersonen für seine Mitglieder mit Beeinträchtigungen aus, auch hier trägt die Gemeinschaft. 

In einer Probepause hatte Vera Rohrer ihrem zweifelnden Nachtfalter-Partner unauffällig einen Glücksbringer zugesteckt. Vera Rohrer ist neu beim Theater Frei_Raum. Als Quereinsteigerin trat sie davor im Ensemble des Theaters Hora in Zürich auf, der damals schweizweit einzigen institutionalisierten Ausbildungsstätte für Schauspielerinnen und Schauspieler mit kognitiven Beeinträchtigungen. Nach neun Jahren beendete die Trägerschaft 2018 den dreijährigen Lehrgang. Seither führt der ehemalige Ausbildungsleiter bei Hora die Ausbildung in seiner Firma fort.  

Freundschaft und Vertrauen anstelle einer institutionellen Ausbildung

Poetisch und versponnen, melancholisch und heiter, kinderleicht und ernst, mit Musik, Tanz, Gesang und Text: Mit seiner einzigartigen Handschrift hat sich das Theater Frei_Raum einen Namen gemacht. Das widerspiegelt sich nicht nur in den Besucherzahlen, sondern auch in der grosszügigen Förderung insbesondere der letzten drei Produktionen durch staatliche und private Förderstellen. Alle Mitwirkenden erhalten einen Lohn; dieser richtet sich nach dem Arbeitsaufwand.

Zum eigenen Stil hat auch das eigene Theaterhaus verholfen. «Wir proben in der Heiteren Fahne, schaffen unsere Stücke für diese Bühne. Das Theater ist uns Heimat und Hafen», sagt Mitgründerin Rahel Bucher. In seinem Theaterhaus pflegt das Theater Frei_Raum auch das eigene Repertoire. Gastspiele bestreitet das Ensemble hingegen nur selten, sind diese doch aufwändig zu organisieren und umzusetzen. Noch enger und inklusiver arbeitet das Theater Frei_Raum für die anstehende Produktion zusammen: Erstmals ging eine einwöchige gemeinsame Recherchephase voraus, in der Themenwahl und Konzeption besprochen wurden.

Über die drei letzten gemeinsamen Produktionen hat das Ensemble eine neue Sicherheit entwickelt, die es noch fehlende Textstellen in der jetzigen Produktion gelassen angehen lässt. «Wir sind auf hohem Niveau ‚chaotisch’ und offen», stellt Andri Schenardi fest. Das Ensemble kann mehr riskieren im Wissen, dass es gut kommt: Das Vertrauen in die Gruppe und ins Gelingen ist vorhanden. «Wir kennen gegenseitig Stärken und Schwächen, wissen, dass die anderen da sind, und helfen. Das schafft Vertrauen», sagt Meike Schmitz. «Es ist wie nach Hause zu kommen», bekräftigt Katrin Jenni.

Das kontinuierliche gemeinsame Arbeiten erlaube es, mehr in die Tiefe zu gehen, ist Meike Schmitz überzeugt. Sie denkt an die Bedingungen in Stadttheatern, wo Regieteam und Ensemble oftmals für jede Produktion neu zusammengewürfelt werden. «Wir sind insgesamt stärker geworden, was jede und jeder kann, ist gewachsen. Wir haben uns weiterentwickelt», fügt die Regisseurin an. Die wachsende Textmenge, die Katrin Jenni von Stück zu Stück bewältigt, ist nur ein Beispiel dafür.

Zugute kommen dem Ensemble auch die Erfahrungen, die alle bei ihren anderen Theaterprojekten und der sonstigen Erwerbsarbeit machen und in die Gruppe einbringen, sagt Rahel Bucher. Und die fehlende Schauspielausbildung eines Teils des Ensembles? «Wie gestalten sich Lernprozesse?», fragt sie zurück. «Der wesentliche Schlüssel, um besser zu werden, sind doch freundschaftliche Beziehungen und Vertrauen.» Wie sonst werde man freier im Spiel und wage es, an seine Grenzen zu gehen und diese zu überschreiten? 

Theater spielen als grosse, manchmal einzige Aufgabe

Der Nachteil einer solch eingeschworenen und erfahrenen Gruppe wie das Theater Frei_Raum: Für neue Theaterinteressierte ist es nicht ganz leicht hineinzukommen. Auch deshalb bietet die Heitere Fahne ab August 2019 ein wöchentliches Theateratelier für Interessierte mit und ohne kognitive Beeinträchtigungen an.

Damit wenig Bühnenerfahrene nicht gleich mit dem Produktionsdruck konfrontiert werden, organisiert auch das Schalktheater in Zürich seit zehn Jahren ein Einsteiger-Training. Rund zehn Anfängerinnen und Anfänger mit psychischen Krankheiten trainieren wöchentlich mit Nina Hesse Bernhard. Die Regisseurin und ausgebildete Schauspielerin leitet das Schalktheater seit 2008.

Die Mitglieder der zweiten, der Ensemble-Gruppe, sind seit vielen Jahren dabei, einzelne gar seit der Gründung des Schalktheaters 2003. Auch sie trainieren wöchentlich, zudem erarbeiten sie jährlich eine Theaterproduktion und führen sie öffentlich auf. Sie verpflichten sich vertraglich, regelmässig an den Proben teilzunehmen, besonders mit Blick auf die Aufführungen. In der Pause zwischen zwei Stücken schaffen sie eigene kurze Kreationen, die sie an Werkschauen in einem kleineren Rahmen zeigen.

«Ein grosser Teil der Arbeit im Schalktheater besteht darin, die Voraussetzungen zu schaffen, dass die Produktion realisiert werden kann.»
Nina Hesse Bernhard, Regisseurin und Künstlerische Leiterin Schalktheater​, Zürich

Die Mehrheit der Ensemble-Mitglieder bezieht krankheitsbedingt eine IV-Rente oder Sozialhilfe. Häufig heisst dies gleichzeitig, am Rande der Gesellschaft zu stehen und wenig Kontakte zu haben. Das Schalktheater gibt dann nicht nur eine Tagesstruktur. Die Bühne ist vielmehr eine einzigartige Plattform, um vor Publikum aufzutreten, eine der seltenen Möglichkeiten, wahrgenommen zu werden. Theater zu spielen sei für die Ensemble-Mitglieder deshalb kein Hobby, sondern eine grosse Aufgabe, manchmal die einzige. In der Gruppe zu bestehen und seine Position zu finden, in neue Rollen zu schlüpfen, der öffentliche Auftritt: Zu erleben, dass man diese Herausforderungen meistert, wirke sich auf den Alltag aus. «Das gibt Sicherheit und stärkt die Persönlichkeit.» Und das übertrage sich wiederum auf die Theaterarbeit.

Verantwortung übergeben und Voraussetzungen schaffen

Was das Publikum nicht mitkriegt, sind die dunklen Momente, wenn Krankheit und Medikamente apathisch machen, Lebensfreude abhanden gekommen ist und das Theatertraining in Schwere erstarrt. Auf die verschiedenen Krankheitsbilder der Einzelnen wie etwa Schizophrenie, Bipolarität, Narzissmus oder Angstzustände geht Nina Hesse Bernhard beim Training bewusst nicht näher ein.

Statt der Krankheit Raum zu geben, versucht sie, die Gruppe hin zur Kreativität, zum Handeln, zur Arbeit am Text und an den Rollen zu bringen. Und sie versucht, sich nicht als alleinige Zuständige für die Motivation zu sehen; es auszuhalten, wenn wenig kommt. Stattdessen übergibt sie Verantwortung an die Gruppe. Zum Beispiel indem jeder und jede einen Teil des Warm-ups zu Beginn des Theatertrainings gestalten muss.

Das Schalktheater 2018 im Stück «Ein Sommernachtstraum und was ich sonst noch alles verpasst habe». In der Produktion von 2020 sollen professionelle Schauspielerinnen und Schauspieler sowie Interessierte mit und ohne psychische Beeinträchtigungen mitwirken.

© Tina Ruisinger / Schalktheater​

Auch deshalb engagierte sie für die letzte Theaterproduktion 2018 erstmals einen externen Regisseur. Eine Herausforderung für das Ensemble, aber auch die Chance, Neues zu lernen und weiterzukommen. Dabei merkte Nina Hesse Bernhard, wie schwierig es für Aussenstehende ist, mit den spezifischen Befindlichkeiten umzugehen. «Ein grosser Teil der Arbeit im Schalktheater besteht darin, die Menschen abzuholen, eine Arbeitsstimmung herzustellen, um die Voraussetzungen zu schaffen, dass die Produktion realisiert werden kann.»

Wie im letzten Jahr, als die Produktion trotz einer besonders schwierigen Konstellation und einem Regiewechsel wenige Wochen vor der Premiere schliesslich doch noch zur Aufführung kam. «Zum Glück», sagt Nina Hesse Bernhard. Ein Versprechen wie eine Aufführung nicht einzulösen, ist für sie äusserst schwierig. «Weil ich weiss, wie oft die Wünsche dieser Menschen nicht in Erfüllung gehen, Versprechen nicht gehalten werden.»

Verlässlichkeit und Verbindlichkeit: Auch für das Schalktheater sind sie zentral. Nina Hesse Bernhard erzählt von einer jungen Frau mit Psychosen, die Filmschauspielerin werden möchte. «Das wird sehr schwierig, aber sie soll den Glauben daran nicht verlieren. Unsere Schauspielerinnen und Schauspieler sind näher an ihrem Traum dran, als sie glauben. Denn wir machen es ja, wir erarbeiten Bühnenprojekte und führen sie auf.» Sie verweist auf eine ehemalige Mitspielerin, die nach sieben Jahren beim Schalktheater eine Ausbildung zur Clownin erfolgreich absolviert hat.

Inklusives Junges Schalktheater

Nun sucht das Schalktheater offensiver auch professionelle Schauspielerinnen und Schauspieler sowie Interessierte ohne Beeinträchtigungen. Seine übernächste Produktion möchte es 2020 als inklusives Theater umsetzen. Noch in diesem Jahr, im September 2019, startet das neue Junge Schalktheater mit regelmässigen wöchentlichen Theaterproben. Von Anfang an wird die Gruppe gemischt aus 14- bis 18-Jährigen mit und ohne psychiatrische Begleitung sein. Dabei sollen Vorurteile und Stigmatisierungen auf beiden Seiten abgebaut werden, im Fokus stehe das Miteinander. Das Interesse sei da, doch es brauche viel Vorarbeit; man stehe mit der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich in Kontakt und führe viele Einzelgespräche mit Betroffenen, Eltern und Ärzten.

Mit diesem Pionierprojekt, das eine externe Theaterpädagogin leiten soll, will Nina Hesse Bernhard junge Menschen ansprechen, die ihr vorhandenes Potenzial entdecken und in einem geschützten Rahmen weiterentwickeln möchten.

Eine institutionalisierte Ausbildung für Theatertalente mit unterschiedlichen Behinderungen ist für Nina Hesse Bernhard wünschenswert. Und sie ist überzeugt, dass die Zeit reif dafür ist. Ein Zeichen sei etwa, dass der Kanton Zürich seit 2017 Kulturschaffende und Institutionen auszeichnet, die sich für die Teilhabe möglichst breiter Bevölkerungskreise am kulturellen Leben engagieren. «Das Bewusstsein, dass nicht nur unversehrte Profis auf die Bühne gehören, ist vorhanden.»

Wachsende Anerkennung und kleine Löhne

Das Schalktheater hat 2018 einen von drei kantonalen Anerkennungsbeiträgen erhalten. Zusammen mit der Verleihung des Labels «Kultur inklusiv» im gleichen Jahr hilft dieser zu einer breiteren Anerkennung als Kompetenzzentrum für Theaterarbeit mit Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen. Interessierte reisen aus Schaffhausen und selbst aus dem Emmental zu den wöchentlichen Trainings an. In der diesjährigen Produktion «Pan's Schatten» in der Regie von Daniel Wahl, die im Oktober 2019 Premiere hat, spielen Teilnehmende aus der Einsteiger- und der Ensemble-Gruppe mit, grosse und kleinere Rollen werden je nach Fähigkeiten und Wünschen vergeben.

Hinterher hinkt beim Schalktheater indes die finanzielle Anerkennung. «Die Löhne für das Team abseits der Bühne sind um 40 Prozent niedriger als in der freien Szene üblich.» Für die Schauspielerinnen und Schauspieler sind die kostenlosen Theatertrainings und Proben der Lohnersatz. 

Neben der finanziellen Würdigung und einem eigenen Proberaum wünscht sich Nina Hesse Bernhard für das Schalktheater regelmässige Auftritte an renommierten Spielstätten der freien Szene. Sie denkt an den jungen Mann mit Asperger-Syndrom, der offen zu seiner Krankheit steht. Aber auch an die Lehrerin, die zwar kein Theatertraining auslässt, ihr psychisches Leiden jedoch geheim hält. Die Anerkennung zu erfahren, dass man im professionellen Rahmen und mit künstlerischem Anspruch Theater spiele, sei für die Mitwirkenden zentral. Dann könne man auch leichter dazu stehen, Teil eines Ensembles aus Schauspielerinnen und Schauspielern mit psychischen Auffälligkeiten zu sein. «Und stolz darauf sein.»

Profischauspieler lernen von gehörlosen Darstellern

Für mehr Sichtbarkeit kämpft auch der Verein movo in Winterthur. «Wir wollen als das künstlerisch einzigartige Projekt wahrgenommen werden, das wir sind. Wir sind kein Sozialprojekt», bekräftig Nico Feer, Projektleiter des Vereins movo. Movo ist ein Pionier des bilingualen Theaters, seit 2002 bringt es gehörlose und hörende Darstellerinnen und Darsteller auf der Bühne zusammen, den Gehörlosen ermöglicht das Theater künstlerische Teilhabe in einem professionellen Rahmen.

In den letzten 13 Jahren hat movo sechs Eigenproduktionen erarbeitet, immer zusammen mit professionellen Darstellerinnen, Musikern, Regisseurinnen und Choreografen. Dabei waren Gehörlose und Hörende gleichermassen gefordert. Über Castings stellt movo das Ensemble für jede Produktion neu zusammen. Die jeweils passenden gehörlosen Darstellerinnen und Darsteller zu finden, die auch die Zeit für Proben und Aufführungen aufbringen können, sei teilweise schwierig, sagt Nico Feer, weil es in der Schweiz keine ausgebildeten gehörlosen Performerinnen und Performer gibt.

«Gehörlose gehen nicht oft ins Theater, weil es für sie nicht viele Angebote gibt.»
Natasha Ruf, Präsidentin Verein movo​, Winterthur

In der Tanzproduktion «Listen» von 2013/14 waren deshalb gehörlose Profis aus dem Ausland neben geschulten Laien aus der Schweiz beteiligt. Hier bewiesen die Bewegungsprofis Geduld, als die gehörlosen Tanzlaien die Bewegungsabläufe lernen mussten. Umgekehrt unterstützten die gehörlosen Schauspieler ihre ausgebildeten Kolleginnen beim Erlernen der Gebärdensprache für das Theaterstück «Über die Verhältnisse» von 2017. «Die Profischauspieler zeigten sich von der starken Mimik der Gehörlosen beeindruckt», erinnert sich Nico Feer.

Diese ausgesprochen textlastige Produktion war eine enorme Herausforderung für die gehörlosen Darstellenden. Dennoch: Obwohl man zukünftig wieder zum Bewegungstheater zurück wolle, sei das breit zugängliche, humorige Stück ein wichtiger Exkurs gewesen für die Gemeinschaft der Gehörlosen, sagt Natasha Ruf, Präsidentin von movo. «Gehörlose gehen nicht oft ins Theater, weil es für sie nicht viele Angebote gibt.»

Berufsbegleitende dreijährige Schauspielausbildung für Gehörlose

Zum Angebot von movo für interessierte Gehörlose und Hörende gehören auch Workshops, zum Beispiel in Körpersprache, Tanz oder Mimik. Sie werden insbesondere im Hinblick auf die Eigenproduktionen organisiert. Vertiefter lernen Gehörlose das Schauspielhandwerk während der Produktionsphase eines neuen Stücks. Diese erstreckt sich bei movo über acht oder neun Monate, zunächst an Wochenenden, auf die Premiere zu wird auch unter der Woche geprobt.

Neu haben interessierte Gehörlose zusätzlich die Möglichkeit, die Schauspielerei kontinuierlich zu erlernen: Die private Oltner Schauspielschule bietet seit Herbst 2018 ein Schauspielseminar für Gehörlose an. Die dreijährige Ausbildung findet in monatlichen Wochenend-Seminaren in einzelnen Unterrichtsmodulen statt, teilweise direkt in Gebärdensprache und teilweise in Gebärdensprache verdolmetscht. Damit kommt die Schauspielschule einem offensichtlichen Bedürfnis entgegen: Den ersten Lehrgang besuchen derzeit acht gehörlose Theaterinteressierte aus der ganzen Deutschschweiz.

Ziel des Pilotprojekts ist es, nach dem Abschluss ein professionelles Ensemble zu gründen. Als Konkurrenz sieht movo das Schauspielseminar für Gehörlose dennoch nicht. Die Mehrheit der Teilnehmenden kenne man aus früheren Workshops und Produktionen, sagt Natasha Ruf. «Wir stehen in Kontakt mit dem Schauspielseminar und wollen uns ergänzen.» So soll etwa der nächste Workshop, den movo im Herbst 2019 mit einer gehörlosen Tänzerin über mehrere Wochenenden anbieten wird, auch die Studierenden des Schauspielseminars ansprechen.

Das Gros der Produktionskosten macht beim bilingualen Theaterensemble movo die Gebärdensprachverdolmetschung aus. Hier eine Szene aus der Eigenproduktion «Über die Verhältnisse» von 2017.

© movo

Man freue sich auf geschulte gehörlose Schauspielerinnen und Schauspieler und werde die Seminarteilnehmenden zum Casting für die nächste eigene Produktion einladen, sagt Natasha Ruf. Aus einer theateraffinen Familie kommend – ihr Vater war Pantomime – wollte sie einst selber Schauspielerin werden und besuchte während einem halben Jahr eine Schule in London. «Für mich als Gehörlose war das jedoch sehr schwierig», erinnert sie sich. Obwohl eine gehörlose Dozentin sie ermutigte, habe ihre Angst überwogen, von diesem Beruf nicht leben zu können.

Zurück in der Schweiz kam sie zu Theatertraum, dem Vorgänger von movo. «Hier erhielt ich eine Chance und eine Plattform für meine Leidenschaft.» Die Ausbildung am Schauspielseminar für Gehörlose der Oltner Schauspielschule absolviert Natasha Ruf nicht, weil sie mitten in einer mehrjährigen Weiterbildung zur Grafikerin und Zeichnerin ist.

Produktionskosten grösstenteils für Verdolmetschung

Movo erhofft sich aber nicht nur frisches Blut für die eigenen Produktionen, wenn 2021 die ersten Abgängerinnen und Abgänger des Schauspielseminars auf den Markt kommen. Nico Feer ist gespannt, ob dann der Schauspielberuf für Gehörlose anerkannt wird und, damit einhergehend, die finanzielle Unterstützung für Theaterensembles aus gehörlosen und hörenden Profischauspielern erhöht wird. Denn: «Unser Hauptproblem ist die Finanzierung der Gebärdensprachdolmetscherinnen. Die Verdolmetschung macht drei Viertel unserer Produktionskosten aus.» 

Solange gehörlose Schauspielerinnen und Schauspieler nicht als Profis anerkannt werden, müssen die Kosten für Gebärdensprachdolmetscherinnen, zum Beispiel in einer gemischten Produktion, weitestgehend selber bezahlt werden – gelten die Proben im Produktionsprozess dann doch als Freizeitaktivität und nicht als berufliche Tätigkeit der Gehörlosen.

Weil diese Tatsache alle Organisationen betrifft, die im künstlerischen Bereich mit Gehörlosen arbeiten, hat Nico Feer im März 2019 eine entsprechende Arbeitsgruppe initiiert. Unter den rund zehn Mitgliedern sind der Schweizerische Gehörlosenbund, die Berufsvereinigung der Gebärdensprachdolmetscher Deutschschweiz, die für den Dolmetschdienst zuständige Stiftung procom und die Fachstelle Kultur inklusiv von Pro Infirmis vertreten. Ziel ist unter anderem ein Massnahmenkatalog zuhanden der Kulturförderstellen von Gemeinden, Städten und Kantonen, um sie über die fehlende Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen zu informieren, die gesetzlich eigentlich vorgegeben ist.

Für die nächste Produktion 2020 wird movo wohl hauptsächlich mit Gehörlosen und mit Bühnenschaffenden arbeiten, welche die Gebärdensprache beherrschen. Hörende Darstellerinnen und Darsteller, die sie nicht können, sollen aus Kostengründen erst in der Schlussphase der Proben dazukommen. Sehr zum Bedauern von Natasha Ruf: «Wir werden diese beiden Welten teilweise separieren und die Zusammenarbeit auf ein Minimum reduzieren müssen. Dabei ist es eigentlich unsere Kernkompetenz, Gehörlose und Hörende zusammenzubringen.»

Paola Pitton
April 2019

Kollektiv Frei_Raum & Heitere Fahne

Bern

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