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Beiräte in den Performing Arts

Expertise einholen für mehr Inklusion

Drei Kulturinstitutionen blicken auf unterschiedlich lange Erfahrungen mit einem Beirat zurück: Auf seinem inklusiven Weg beraten vier Fachpersonen mit Behinderungen das Zürcher Theater Spektakel, ein Fachbeirat aus Vertretenden von Behinderteninstitutionen unterstützt das Luzerner Sinfonieorchester, während das Sinfonieorchester Basel einen inklusiven Publikumsrat geschaffen hat.
Das Sinfonieorchester Basel gibt mit Kindern der Orchesterschule Insel ein Konzert in den Universitären Psychiatrischen Kliniken (UPK) Basel im Rahmen des inklusiven Wildwuchs Festivals 2019.
© Sinfonieorchester Basel / Benno Hunziker

Schon seit 2012 begleitet ein Beirat aus Theaterinteressierten mit Mobilitäts- und Sinnesbehinderungen das Zürcher Theater Spektakel. Das jährliche Festival für zeitgenössische Formen der Darstellenden Kunst ist ein Vorreiter in der Inklusion von Menschen mit und ohne Behinderungen. Die Aufgaben des Beirats haben über die Jahre nicht abgenommen – im Gegenteil. Seine Beratung brauche das Festival heute mehr denn je, sagt die kaufmännische Leiterin Delphine Lyner. Sie ist zusammen mit dem technischen Leiter und dem künstlerischen Leiter des Zürcher Theater Spektakels verantwortlich für die inklusiven Massnahmen.

Mit der Behindertenorganisation Procap erstellte das Zürcher Theater Spektakel 2012 ein Inklusionskonzept und schuf einen kulturaffinen Beirat zur Begleitung des Umsetzungsprozesses. Eine Hauptaufgabe der blinden und der hörbehinderten Beirätin sowie des Beirats im Rollstuhl war fortan die Begehung des Festivalgeländes am Tag vor der Eröffnung. Dabei prüften sie die hindernisfreie bauliche Zugänglichkeit, die Signaletik und Zugangshilfen wie Induktionsschleifen und Tastmodelle. Während des Festivals besuchten die Beirätinnen und der Beirat eine Auswahl der Aufführungen und der Gastrobetriebe auf der Landiwiese und schrieben ihre Rückmeldungen zuhanden des Festivals.

Hinzu kam alle zwei Jahre eine Schulung für die am Festival und in der Restauration Beschäftigten. Die mittlerweile vier Mitglieder – eine weitere hörbehinderte Beirätin ergänzte 2017 das Team – informieren über die spezifischen Bedürfnisse von Menschen mit Hör-, Seh- und Mobilitätsbehinderungen, geben Tipps und beantworten Fragen.

«Über die Jahre haben unsere Beirätinnen und unser Beirat vertiefte Fachkenntnisse aufgebaut und beraten auch andere Kulturinstitutionen bei inklusiven Themen.»
Delphine Lyner, kaufmännische Leiterin des Zürcher Theater Spektakels

Aus Interessierten werden Fachleute in eigener Sache

Diese lose Form der Zusammenarbeit, bei der die Beiräte eine pauschale Entschädigung erhielten, behielt das Festival bis 2018 bei. Auf Wunsch des Beirats soll die Schulung neu jedes Jahr stattfinden. Das ist nicht die einzige Änderung. «Über die Jahre haben unsere Beirätinnen und unser Beirat vertiefte Fachkenntnisse aufgebaut und beraten auch andere Kulturinstitutionen bei inklusiven Themen», sagt Delphine Lyner. Dieser Professionalisierung trägt das Festival Rechnung, indem es die Zusammenarbeit verbindlich strukturiert.

Mit dem Beirat erarbeitete Delphine Lyner ein Spesenreglement und individuelle Pflichtenhefte, definierte und erteilte Einzelmandate, legte Stundenlöhne und Sitzungspauschalen fest. Das sei nicht nur professionell und fair, sondern mache das Zürcher Theater Spektakel auch unabhängiger: Die verschriftlichten Aufgaben liessen sich leichter auf andere Personen übertragen, sollte ein Beiratsmitglied dereinst austreten. 

Die zwei Tastmodelle mit Erklärungen in Brailleschrift bei den beiden Haupteingängen des Zürcher Theater Spektakels sind eine von mehreren Zugangshilfen, die das Festival auf Input seines Beirats Besuchenden mit und ohne Behinderungen zur Verfügung stellt.

© Zürcher Theater Spektakel / Christian Altdorfer​

Der Professionalisierung Rechnung tragen

2018 mandatierte das Festival einen blinden Experten des Vereins Hörfilm Schweiz damit, die Webseite des Festivals barrierefrei zu machen. Weiter wurde er beauftragt, Alternativen zu finden zu den Kopfhörern, die das Festival für seine Audiodeskriptionen anbot. In der Ausgabe 2019 werden sehbehinderte und blinde Gäste die live audiodeskribierten Veranstaltungen über eine App auf ihrem Mobiltelefon hören können.

Die Beirätinnen sind neu in die Auswahl der Produktionen einbezogen, die sich besonders gut eignen, um audiodeskribiert, übertitelt oder in Gebärdensprache verdolmetscht zu werden. Für die Festivalausgabe 2019 erstellt die hörbehinderte Beirätin mit der dafür Zuständigen erstmals deskriptive Übertitel für mehrere Produktionen. Auch führt das Zürcher Theater Spektakel 2019 die Verdolmetschung in Gebärdensprache wieder ein und übersetzt drei Vorstellungen eines Kinderstücks in Deutschschweizer Gebärdensprache.

Das Zürcher Theater Spektakel möchte zudem sein Publikum stärker für Inklusion sensibilisieren. Zusammen mit Fachpersonen des Vereins Sensability – Experten für Inklusion bieten seine Beiräte während des Festivals 2019 erstmals einen Workshop an, der den Perspektivenwechsel ermöglicht: Die Teilnehmenden erleben, wie es sich anfühlt, mit Einschränkungen in den Bereichen Sehen, Hören und Mobilität zu leben.

Für seine Festivalausgabe 2020 hat das Zürcher Theater Spektakel entschieden, dass Menschen mit Behinderungen als bezahlte Helfende am Festival eingebunden sein sollen. Um geeignete Tätigkeiten gezielt ausschreiben zu können, ist Delphine Lyner im Gespräch mit anderen Festivals der Performing Arts und Labelträgern von Kultur inklusiv. 

Dank besonderem Setting zu inklusiven Konzerterlebnissen

Eine Musikerin des Luzerner Sinfonieorchesters organisiert seit der Saison 2018/19 moderierte Stationskonzerte in Alters- und Pflegeheimen sowie in Institutionen für Menschen mit Behinderungen.

© Luzerner Sinfonieorchester / Ingo Hoehn​

Ebenfalls zu den inklusiven Vorreitern in den Performing Arts zählt das Luzerner Sinfonieorchester. In der Saison 2014/15 lancierte das Orchester auf Wunsch der Intendanz ein Angebot für Menschen mit Demenzerkrankungen und ihre Begleitung. Das besondere Setting, welches das Sinfonieorchester für einige seiner Lunchkonzerte im KKL Luzern organisiert, wurde in Kooperation mit der Alzheimervereinigung Luzern erarbeitet. Demenzkranken Menschen und ihren Angehörigen bietet es eine Einstimmung im kleinen Rahmen mit ein, zwei Musikerinnen oder Musikern an. Danach folgt das Konzert gemeinsam mit dem regulären Publikum, aber an reservierten Randplätzen, falls jemand früher gehen möchte.

Dieses inklusive Angebot komme bei den Besuchenden mit und ohne Beeinträchtigungen sehr gut an, sagt die Musikvermittlerin des Orchesters Eva Mertins, welche die Einstimmung in die Lunchkonzerte seit Oktober 2018 organisiert. Mitentscheidend ist dafür die umsichtige Kommunikation: Mit dem Management des KKL Luzern wurden vorab Gespräche geführt, das Saalpersonal und das auftretende Ensemble sind informiert, und Handzettel weisen das Publikum auf das inklusive Konzert und auf mögliche ungewohnte Reaktionen hin.

Zwischen 20 und 30 Betroffene besuchen durchschnittlich diese Einstimmungen und die anschliessenden Konzerte – für das Lunchkonzert im März 2019 meldeten sich 90 Interessierte an, allein über die Schweizerische Alzheimervereinigung Graubünden reiste eine Gruppe von 50 Personen aus Chur an. Obwohl dieses Angebot nicht kostendeckend ist, baut das Luzerner Sinfonieorchester in der Saison 2019/20 die Konzerteinstimmung von drei auf sechs der insgesamt acht Lunchkonzerte aus.

Von einer zu mehreren Kooperationen und zum institutionellen Fachbeirat Inklusion

Nach der ersten erfolgreichen Kooperation mit der Alzheimervereinigung ging das Luzerner Sinfonieorchester 2017 zwei weitere langfristig ausgelegte Partnerschaften ein: An den Jugend-Rehabilitationswochen besuchten Orchestermitglieder das Schweizer Paraplegiker-Zentrum Nottwil, wo sie mit den Patientinnen und Patienten Musik entwickelten und in einem kleinen Abschlusskonzert vortrugen. Mit der Stiftung Brändi Willisau organisierte die Musikvermittlung einen Konzertabend mit einer musikalischen Einstimmung und einem gemeinsamen Essen vor dem Konzert. Bei den 15 Teilnehmenden mit leichten kognitiven Beeinträchtigungen aus der Stiftung kam das Angebot gut an und soll wiederholt werden.

«Über die im Fachbeirat vertretenen Institutionen lassen sich gezielt Expertinnen und Experten in eigener Sache finden, die beispielsweise ein neues Angebot des Orchesters testen.»
Eva Mertins, Musikvermittlerin des Luzerner Sinfonieorchesters​

Um mehr Interessierte mit unterschiedlichen Behinderungen einzubeziehen, beschloss das Luzerner Sinfonieorchester 2017 weiter, mit Vertretenden von Behindertenorganisationen und -verbänden einen institutionellen Fachbeirat zu schaffen. «Über die im Fachbeirat vertretenen Institutionen lassen sich gezielt Expertinnen und Experten in eigener Sache finden, die beispielsweise ein neues Angebot des Orchesters testen.» Mit Unterstützung der Fachstelle Kultur inklusiv von Pro Infirmis wählte die Musikvermittlung Institutionen und Organisationen aus, stellte das geplante Projekt vor – und stiess auf offene Ohren. Sechs Fachleute in leitenden Funktionen gehören seit November 2017 zum Fachbeirat Inklusion des Luzerner Sinfonieorchesters. Vertreten sind neben der Stiftung Brändi und dem Schweizer Paraplegiker-Zentrum Nottwil auch die Stiftung rodtegg für körper- und mehrfachbehinderte Menschen, die Pro Senectute des Kantons Luzern, der Schweizerische Blinden- und Sehbehindertenverband (Sektion Zentralschweiz) und insieme Luzern.

Viele Musikerinnen und Musiker des Luzerner Sinfonieorchesters tragen die inklusive Haltung engagiert mit. Eine Orchestermusikerin organisiert in der Saison 2018/19 moderierte Stationskonzerte in Alters- und Pflegeheimen sowie in Institutionen für Menschen mit Behinderungen. Das Pilotprojekt bringt Musik zu Menschen, die kein Konzert besuchen können. Dabei spielt ein Kammermusik-Ensemble ein öffentliches Eröffnungskonzert; zwei bis drei weitere moderierte halbstündige Konzerte finden im kleinen Rahmen auf den Stationen für die Bewohnerinnen und Bewohner statt. In ihrem Evaluationsbericht der Konzertreihe hielt die Heimleiterin eines Alters- und Pflegeheims fest, wie sonst in sich versunkene Menschen plötzlich wach und aufmerksam waren, sich an die Musik ihrer Jugend erinnerten und darüber austauschten. Das erfolgreiche Projekt wird mit einem grösseren Budget in der Saison 2019/20 weitergeführt.

Inklusives Pilotprojekt Konzertbegleitung

Für ein weiteres mit Unterstützung des Fachbeirats entstandenes Pilotprojekt suchte das Luzerner Sinfonieorchester Freiwillige, die «mit blinden und sehbehinderten Menschen ins Konzert» gehen, wie der Aufruf im Programmheft der Saison 2018/19 und auf der Webseite lautete. Für die Begleitung ist das Konzert kostenlos, dafür holt sie je nach Bedarf und Wunsch die interessierte Person mit Sehbehinderung am Bahnhof ab oder liest ihr aus dem Programmheft vor. Ein Dutzend Freiwillige jeden Alters meldete sich. Vor Saisonbeginn im September 2018 schulte sie ein Experte der Fachstelle Sehbehinderung Zentralschweiz, daran teil nahmen auch zwei Mitglieder der Geschäftsstelle des Luzerner Sinfonieorchesters. Der Praxisteil der zweistündigen Sensibilisierung erfolgte im KKL Luzern, dessen Residenzorchester das Luzerner Sinfonieorchester ist.

Für alle bis Ende Mai 2019 erhaltenen 26 Anfragen wegen einer Konzertbegleitung fand Eva Mertins per Mail-Umfrage oder telefonisch eine Begleitperson. Sie erzählt von einer blinden Dame um die siebzig, die jahrzehntelang nicht mehr an einem Konzert war, bis sie im Wohnheim vom Angebot erfuhr. «Sie ist vom Projekt begeistert, auch weil eine etwa gleichaltrige Freiwillige sie schon mehrmals begleitet hat und eine Freundschaft am Entstehen ist», freut sich Eva Mertins.

Inklusiver Publikumsrat berichtigt falsche Annahme

Ein Streichquartett des Sinfonieorchesters Basel spielt im Park der Universitären Psychiatrischen Kliniken (UPK) Basel anlässlich des Wildwuchs Festivals 2019.

© Sinfonieorchester Basel / Benno Hunziker​

Begleitung zu Konzerten hat auch für das Sinfonieorchester Basel grosses inklusives Potenzial, nicht nur für sein älteres Publikum. Das Orchester setzt sich seit Mitte 2018 verstärkt für die Inklusion von Musikinteressierten mit und ohne Behinderungen ein. Das Engagement ist bemerkenswert, muss das Sinfonieorchester doch seit der Saison 2016/17 ohne seine Hauptspielstätte, das Stadtcasino Basel, auskommen, das noch bis im Sommer 2020 umfassend saniert und erweitert wird.

Diesem Manko begegnet das Orchester kreativ: Beispielsweise nehmen die Sinfoniekonzerte, die es während dieser vier Jahre an den Ersatzspielstätten Musical Theater Basel, Basler Münster und Theater Basel gibt, inhaltlich Bezug zu den Spielorten. Zunutze kommt dem Sinfonieorchester Basel dabei seine jahrelange Erfahrung mit Veranstaltungspartnern in häufig niederschwelligen Konzertformaten an vielfältigen Konzertorten, mit denen es breite Bevölkerungskreise anspricht.

«Wir wünschen uns Interessierte mit unterschiedlichen Behinderungen im Publikumsrat, die unser künstlerisches Angebot kennen oder vertieft kennenlernen möchten, um längerfristig zusammenzuarbeiten.»
Cristina Steinle, Mitarbeiterin Marketing und Kommunikation des Sinfonieorchesters Basel​

Um noch besser auf die Anliegen seines Publikums mit und ohne Behinderungen eingehen zu können, entschied sich das Sinfonieorchester Basel 2018 einen inklusiven Publikumsrat zu schaffen. Es schrieb rund 800 Abonnentinnen und Abonnenten an und kontaktierte Behinderteninstitutionen in Basel und Umgebung. Rund zehn Mitglieder beraten nun das Orchester unentgeltlich: Abonnentinnen und Abonnenten unterschiedlichen Alters, fünf Interessierte mit verschieden stark ausgeprägten Hörbehinderungen und eine blinde Person.

Am ersten der bisher drei Treffen sensibilisierten drei hörbehinderte Publikumsräte für die Bedürfnisse von Menschen mit Hörbehinderungen. «Das war für uns auch deshalb wichtig, weil sie falsche Annahmen korrigierten», erinnert sich Cristina Steinle, beim Sinfonieorchester Basel zuständig für Marketing und Kommunikation. «Wir wussten beispielsweise nicht, dass ein Konzert für Menschen, die schlecht hören, zu laut sein kann.» 

Einfach formulierte Zusammenfassungen im Generalprogramm sind geschätzt

An einem Sinfoniekonzert testeten zwei Mitglieder des Publikumsrats mit Hörgeräten, wie die Ansprache und das Konzert verstärkt über eine Höranlage klingen. Sie bemängelten die Qualität der Höranlage, die allerdings auf Sprechtheater und nicht auf den komplexen Klang eines grossen Orchesters ausgelegt ist. Wichtig bleibt die Höranlage für sie indes bei Moderationen. Seither achtet das Sinfonieorchester Basel darauf, dass auch spontane Ansprachen über ein Mikrofon erfolgen und so über die Induktionshöranlage verstärkt werden können.

Am nächsten Treffen des Publikumsrats erfuhr Cristina Steinle, welchen Bezug die Mitglieder zur klassischen Musik haben, und bei der dritten Begegnung, welche Kommunikationsmittel sie lesen. Insbesondere interessierte die Abteilung Marketing und Kommunikation, wie das Generalprogrammheft der Saison 2018/19 ankommt, das für jedes Konzert zusätzlich eine einfach formulierte Zusammenfassung enthält. Die Befürchtungen, diese könnte als störend oder banal empfunden werden, waren unbegründet. Alle Mitglieder schätzten die Kurzfassungen in einer grösseren Schrift. 

Den Publikumsrat erweitern und einen institutionellen Expertenrat aufbauen

Nach dieser ersten Phase des Kennenlernens wolle man nun systematischer vorgehen und den Publikumsrat erweitern, sagt Cristina Steinle. «Wir wünschen uns mehr Interessierte mit unterschiedlichen Behinderungen als Mitglieder, die unser künstlerisches Angebot kennen oder vertieft kennenlernen möchten, um längerfristig zusammenzuarbeiten.» Die blinde Publikumsrätin beispielsweise ist mittlerweile Abonnentin des Sinfonieorchesters Basel.

Klären möchte Cristina Steinle auch, ob Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen die Angebote des Sinfonieorchesters Basel aus mangelndem Interesse nicht nutzen «oder weil wir sie nicht passend ansprechen.» Das Sinfonieorchester Basel ist eine von sechs Kulturinstitutionen, für die der Inklusionspionier Wildwuchs Festival kostenlose Kulturbegleitungen mit Freiwilligen anbietet. Das Sinfonieorchester Basel bewirbt das inklusive Angebot – bisher allerdings noch erfolglos. Deshalb soll das Gespräch mit dem WohnWerk Basel gesucht werden, in dem Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen leben und arbeiten und zu dem schon Kontakte bestehen: Beim 100-jährigen Jubiläum der Behinderteninstitution 2017 spielte das Sinfonieorchester Basel zusammen mit den «Schreegi Vögel», der Band bestehend aus Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen und Mitarbeitenden des WohnWerks.

Um langfristige inklusive Kooperationen aufzubauen, soll in der Saison 2019/20 zudem ein Expertenrat mit Vertreterinnen und Vertretern von vier Institutionen geschaffen werden. Neben der Stiftung WohnWerk Basel könnten dies die Sehbehindertenhilfe Basel und die Universitären Psychiatrischen Kliniken (UPK) Basel sein sowie die Stiftung Basler Wirrgarten, in der das Sinfonieorchester Basel seit 2014 Kammermusik-Konzerte für Menschen mit Demenz und ihre Angehörigen gibt. In den Universitären Psychiatrischen Kliniken (UPK) Basel fand während des Wildwuchs Festivals 2019 ein Konzert mit dem Sinfonieorchester Basel und Kindern der Orchesterschule Insel statt für ein gemischtes Publikum aus Musikinteressierten mit und ohne Behinderungen.

Aus Pilotprojekten werden reguläre inklusive Angebote

Das Luzerner Sinfonieorchester hat seinen institutionellen Fachbeirat bisher zwei Mal in corpore getroffen. An den Jahrestreffen berichtete die Musikvermittlung über den Stand der inklusiven Projekte und erhielt von den Beiräten neue Ideen und Verbesserungsvorschläge, zum Beispiel für die Kommunikationsmittel.

Die Expertise für die einzelnen Projekte holt sich die Musikvermittlerin Eva Mertins bei den Fachbeiräten in individuellen Gesprächen. Zum Beispiel für das Pilotprojekt «Mein Musiker», bei dem 30 Musikerinnen und Musiker des Luzerner Sinfonieorchesters in der Saison 2018/19 als Patin oder Pate je eines Kindes oder einer Jugendlichen agieren und persönliche Einblicke hinter die Kulissen ermöglichen. Für die kommende Saison wird sich der Fachbeiratsvertreter von insieme Luzern für eine grössere Durchmischung einsetzen, damit vermehrt auch Kinder aus bildungsfernen Schichten und Jugendliche mit Behinderungen daran teilnehmen.

Mit dem Schweizer Paraplegiker-Zentrum Nottwil plant Eva Mertins Probenbesuche für Menschen, die ihre Reintegration in den Alltag testen. Die Probenbesuche sollen im neuen Probenhaus und Zentrum für Kinder- und Jugendprojekte des Luzerner Sinfonieorchesters stattfinden, das voraussichtlich im Mai 2020 eröffnet wird. Bereits für Oktober 2019 ist die nächste Schulung für freiwillige Konzertbegleiterinnen und -begleiter von blinden und sehbehinderten Menschen angesetzt. «Im Laufe der Saison haben sich bereits mehrere Interessierte gemeldet», freut sich die Musikvermittlerin.

Beiräte und Kooperationspartner als Multiplikatoren

Das Sinfonieorchester Basel möchte das Gespräch suchen mit den Zuständigen des Stadtcasino Basel für eine geeignete Höranlage, die vor der Neueröffnung im Sommer 2020 möglichst von betroffenen Fachpersonen getestet werden soll. Der erweiterte Publikumsrat und insbesondere der institutionelle Expertenrat sollen das Orchester nicht nur dabei beraten, welche Konzertformate für die jeweilige Community besonders spannend und geeignet sind, sondern auch helfen, auf das Angebot aufmerksam zu machen.

Das Zürcher Theater Spektakel wünscht sich ebenfalls, dass seine Beiräte die eigene Community mobilisieren. Es gehöre zu ihrem Pflichtenheft, Inputs zu geben, auf welchen Kommunikationskanälen passende Angebote beworben werden können, sagt Delphine Lyner. Dass Produktionen mit, von oder über hörbehinderte Menschen in der Gehörlosen-Community besonders gut ankommen, zeigte der Erfolg des polnischen Stücks «Jeden gest» 2017. Um 2020 erneut eine passende Produktion anbieten zu können, besucht eine hörbehinderte Beirätin im Juli 2019 ein internationales Festival über die Gehörlosenkultur in Frankreich.

Mit der Einbindung in der Programmauswahl können die Beirätinnen zudem kompetent in der jeweiligen Community Werbung machen, ist Delphine Lyner überzeugt. Auch habe sich das inklusive Engagement des Zürcher Theater Spektakels herumgesprochen, und Besucherinnen und Besucher mit Behinderungen meldeten sich mit Ideen, die allen zugutekommen. Wie beispielsweise jene sehbehinderte Frau, die eingesprochene Übertitel bei fremdsprachigen Produktionen anregte. Am Festival 2019 werden diese in mehreren Vorstellungen erstmals über eine App am Mobiltelefon zu hören sein.

Das Luzerner Sinfonieorchester kann auf seine Kooperationspartner als zuverlässige Multiplikatoren zählen. Die Alzheimervereinigung Luzern beispielsweise weist über einen Grossversand jeweils im Spätsommer auf die Lunchkonzerte hin, und auch die Fachstelle Sehbehinderung bewarb die Konzertbegleitungen mittels Versand beim Zielpublikum.  

Eva Mertins sieht dennoch Verbesserungspotenzial. «Das Luzerner Sinfonieorchester macht viel Gutes – aber es spricht wenig über sein Engagement», ist ihr Eindruck. Um die Sichtbarkeit zu erhöhen, sollte der Fachbeirat in seiner Funktion als Multiplikator noch gezielter einbezogen werden – handle es sich doch um eine Win-win-Situation für beide Seiten, sagt die Musikvermittlerin: «Indem sie Einfluss nehmen auf unsere Angebote kreieren die Fachbeiräte für ihre Institutionen einen Mehrwert. Und wir nutzen ihre Kommunikationskanäle und erreichen gezielt unser Publikum.»

Paola Pitton
Juni 2019

Zürcher Theater Spektakel

Zürich

Luzerner Sinfonieorchester

Luzern

Sinfonieorchester Basel

Basel